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25. Mai 2022
Redaktion

Wenn Fassaden Geschichten erzählen

Die Technik des Sgraffito geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Zwar nimmt das Interesse für diese alte Technik zu, da man sie sehr gut als künstlerisches Ausdrucksmittel einsetzen kann. Aber es gibt immer weniger Handwerker, die Erfahrung mit dieser Technik haben und sie ausführen können. Und alte Sgraffiti sind gefährdet, da sie bei Renovierungen häufig durch einen Neuverputz verschwinden oder durch Dämmschichten oder Vorhangfassaden verdeckt werden.

Foto: Dr. Wolfram Köhler

Im Engadin, eine der schönsten Alpenlandschaften: Ein Kunsthandwerker kratzt Motive aus der kalkweißen Deckschicht einer Hausfassade. Geräusche des Kratzeisens begleiten seine gestaltende Tätigkeit. Dieses Fas­sadenweiß, aus dem die Figuren in frischem Zustand (al fresco) gekratzt werden, bedeckt eine schwarz pigmentierte Schicht. So erscheinen – ganz ohne Pinselstrich – dunkle Sgraffitomotive in weißer Putzfläche als zweischichtiger Dekor auf dem Gebäude. Beliebt für diese Außenzierde sind Motive von verspielter Geometrie, aus Flora und Fauna, Sage und Historie der Region. Wellen symbolisieren die einst gefürchtete Kraft der Zerstörung durch den nahen Fluss Inn. Darstellungen der Göttin Enna (Inn) als Flussjungfrau sollten diese Naturgewalt besänftigen.

Rätselhaftes an der Fassade

Doch welches Anliegen, welches Geheimnis verbirgt sich in diesem südländisch anmutenden Fassadenschmuck? Ist es nur oberflächlicher Zierrat? Welche Intuition und welches Wissen führt die Hand des kreativen Künstlers beim Entwurf und Gestalten der Motive, wie wirkt dieser Dekor auf den Betrachter? Die Darstellungen werten die Außenwirkung der Häuser in diesem romanisch beeinflussten alpinen Kulturraum zu einer schmucken Erscheinung auf. Die Motive und Spruchweisheiten haben ihre einstige inhaltliche Aussage mit der Zeit zu eher dekorativer Wirkung verändert.

Das Engadin ist eine kulturgeografische Grenzregion. Hier treffen alpine und mediterrane Einflüsse aufeinander und bereichern sich gegenseitig. Die Sgraffitotechnik kommt aus dem südlichen romanisch – mediterranen Kulturraum, ihre Wurzeln reichen in das Florenz der Renaissance zurück. Auswanderer brachten diese gestalterische Technik mit, Kaufleute, Zuckerbäcker, Kaffeeröster, Handwerker. Die Vielfalt der Motive lässt beide regionale Einflüsse erkennen: Arabeske, Putto und Meeresgetier die südliche Herkunft, Steinbock, Gämse und Hirsch stellen den alpinen Bezug her. Solche Kulturräume, die von unterschiedlichen Einflüssen geprägt sind, gibt es auch in anderen Grenzregionen, im Tessin oder in Südtirol.

Vom Kratzen und Schreiben

Der Begriff Sgraffito für diese dauerhafte und wetterbeständige Fassadengestaltung durch Ritz- oder Kratzputztechnik leitet sich vom italienischen Wort „sgraffiare“ (kratzen) ab. Graffito (Plural: Graffiti) dagegen ist die meist gesprayte, auch bei uns bekannte Oberflächengestaltung in bunten Farben, welche die Grenzen der Legalität oft überschreitet. Beide Begriffe leiten sich letztlich vom altgriechischen Wort „graphein“ (schreiben) ab. Zwei Farben also, die eigentlich keine sind, gestalten die traditionelle Außenfassade: weiß und schwarz. Trotzdem sind Fassadenfarben nicht ausgeschlossen, wenn etwa eine weitere andersfarbige Schicht ein mehrfarbiges Bild schafft. Übrigens: Die dunkle Untergrundfarbe wurde mit Pigmenten von Stein- oder Pflanzenkohle erzeugt.

Besondere Architektur und Baukultur

Die Verwendung von Stein ersetzte im Hausbau ab etwa 1500 die überkommene Holzbauweise. Entwaldung durch Raubbau an den natürlichen Ressourcen machte geeignetes Holz schon vor Jahrhunderten hier zur Mangelware. Zerstörungen durch die verheerenden Kriege der Habsburger gegen die Eidgenossen begünstigten die robuste und wehrhafte Steinbauweise in steinreicher Landschaft: Granit, Gneis, Bruchsteine von regionaler Herkunft. Wohlriechendes Arvenholz verschafft den Wohnräumen eine behagliche Atmosphäre. Im Außenbereich beschränkt sich der nachwachsende Rohstoff Holz auf Tür und Tor, Dächer, Fenster und Balkone. Die Bauweise vereint Räume von Wohn- und Wirtschaftsteil unter einem Dach. Dies ist häufig in klimatisch rauen Regionen der Fall, in denen die Natur zum Wärmesparen zwingt – Nachhaltigkeit von der Natur diktiert. Dicke Mauern bieten Schutz vor winterlicher Kälte und sommerlicher Hitze. Daher auch die kleinen, zurückgesetzten Fenster mit breiten, schrägen Fluchten von weißer Farbe, um Licht reflektierend einfallen zu lassen. Kunstvolle Zierrahmen als Blickfang erhöhen die Außenwirkung der Fenster. Dazwischen bleibt genügend Gestaltungsfläche für den Kratzdekor: geometrische Figuren und Spielereien, Rosetten, Tiere und Blüten oder nur weiße Flächen, die keines Zierrates bedürfen. Auch animalische Exoten tauchen auf: Einhorn, Schlange, Affen, Meeresungeheuer. Der gestalterischen Phantasie sind – innerhalb des traditionellen Rahmens – kaum Grenzen gesetzt.

 

Sgraffito

„… in Florenz im 16. Jahrh. häufig geübte Art einfarbiger Wandmalerei, in welcher der aus Kalk, Sand u. Kohlenstaub bestehende Grund mit dünnem Gips überstrichen wird. Dann wird die Zeichnung nach dem Karton darauf gebracht u. auf den Umrissen u. Schraffierungen die weiße Decke mit einem spitzen Eisen weggenommen, so daß der schwarze Grund in Linien zum Vorschein kommt …“ Pierers Konversations-Lexikon, Stuttgart 1892

 

Existenzielle Bedürfnisse

Die Siedlungsräume der Alpen passen sich den naturräumlichen Gegebenheiten an, fügen sich harmonisch in die Gebirgslandschaft ein. Das geschah einst weniger aus Gründen von Ästhetik und Bedürfnissen nach architektonischer Harmonie. Vielmehr genügen damalige praktische bauliche Erfordernisse unseren heutigen Vorstellungen von Schönheit in einer weitgehend intakten Kulturlandschaft. Der traditionelle Engadiner Siedlungsraum stellt so etwas wie ein architektonisch alpin-mediterranes Gesamtkunstwerk dar. Doch das weckt Begehrlichkeiten durch den Tourismus, von denen auch die einheimische Bevölkerung betroffen ist. Ein Preisanstieg ist eine der Folgen, was wiederum eine gesichtslose und gewinnorientierte Bauweise nach sich zieht: „Der Tourismus frisst seine eigenen Kinder“. Besucher rätseln über geheimnisvolle Fassadensymbole, Schriftzüge und Spruchweisheiten, die ausschließlich in romanischer Sprache verfasst sind: L’UTUON CUN CHAMINEDA PLAINA ANS DO D’INVIERN SA BUNA TSCHAINA. Übersetzt heißt dieser Spruch auf einem schmucken Haus in La Punt Chamues-ch: Der Herbst mit voller Speisekammer verschafft uns im Winter ein gutes Abendessen. Diese Sprüche haben alltägliche und existenzielle Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung in der Vergangenheit zum Inhalt.

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Foto: kuraphoto/AdobeStock_428914080
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